• Beitrags-Kategorie:Kultur
  • Beitrags-Kommentare:0 Kommentare

Wir freuen uns über Deinen Kommentar!

Die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. Sie entledigt sich ihren Schuhen, öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke und… oh, irgendetwas fehlt. Ihre Jacke hat sie an, ihre Trinkflasche ist im Rucksack verstaut, oder? – Ja. Sie öffnet die Tür und der Verdacht bestätigt sich. Sie blickt in das viel zu freundliche Treppenhaus, mit seinen viel zu weißen Wänden und ja, der Schlüssel steckt noch. Typisch, mal wieder vergessen. Gedanklich lag, nein saß, sie schon auf dem Sofa, zum Liegen wäre sie zu ausgelaugt. Klingt widersprüchlich, selbst für sie. So tief gesunken zu sein, schon eine Kunst, aber irgendwoher muss sie ja die Energie nehmen, um sich hinzulegen.  Ungeachtet dessen, dass sie noch ihre halbe Montur trägt, begibt sie sich in ihr kleines Wohnzimmer mit der schwarzen Wand rechts vom Eingang. Eigentlich hatte sie vorgehabt, mindestens drei Wände so zu färben, aber ihre Familie hat sie davon abgehalten. Schwarz sei zu dunkel, zu trist, weiß wäre viel freundlicher, würde nicht so bedrückend wirken. Sie hat zwar widersprochen, ihrer Meinung nach täuscht schwarz wenigstens keine unnötige Heiterkeit vor. Schwarz wirkt viel sanfter, geerdeter, es hat die Kraft einen in der nüchternen Realität zu halten und hält keine lebensfremde Illusion einer besseren Welt am Leben. So mochte sie es schon immer. Außerdem lässt es den Raum kleiner, behaglicher wirken, anstatt viel zu weitläufig. Warum wollen so viele eine große Wohnung oder gar ein Haus haben? Allein die Vorstellung daran gruselt sie schon ungemein. Das wäre viel zu überfordernd, jeder Ecke genug Zuwendung zu schenken, als ob es das nicht jetzt schon wäre. Ok, zugegeben, nicht jeder denkt so, aber viele genug, um diese Verallgemeinerung zuzulassen. Warum ist es überhaupt so, dass es uns so verdammt wichtig ist, eine feste Fläche zu besitzen, die auf so viele Wege zerstört werden kann? Durch Feuer, durch Krieg, durch Steine, die unerwartet vom Himmel stürzen. Alles das, was man schätzt, was einem wichtig ist, wird einem doch eh früher oder später genommen werden. Zugegeben, das ist absurd. Verzweifelt schüttelt sie ihren Kopf. Es ist nicht angebracht über solche tiefgründigen Themen zu philosophieren, die nichts an ihrem Zustand ändern werden. Sie hat zu tun, theoretisch, in Wirklichkeit weiß sie ganz genau, dass sie keine dieser Aufgaben anrühren wird, zumindest heute nicht, wahrscheinlich auch morgen nicht, zumindest so lange nicht, bis sie wieder versteht, was es heißt zu leben, aber warum muss man das überhaupt verstehen, warum reicht es nicht, einfach zu leben? – Und da ist die nächste tiefgründige philosophische Frage. Gebrochen bewegt sie sich auf ihr schwarzes Sofa zu, gegenüber der schwarzen Wand. Warum hat sie nicht auf sich gehört, warum hat sie sich selbst nachgegeben? Ihre Familie wollte sie nicht mal unter Druck setzen, sie haben einfach ausgesprochen, was sie dachten. Um Diskussionen auszuweichen hat sie ihr Vorhaben fallen gelassen, ist sich selbst auf brutalste, unnötigste Weise in Ungnade verfallen. Zugegeben, vielleicht gibt es wichtigeres als die Wandfarbe der Wohnzimmerwände, aber aus irgendeinem Grund beschäftigt sie die ganze Sache extrem. Nicht nur das, so geht es ihr mit ihrem gesamten Leben. Ein Sturm zieht auf in ihrem Kopf, als ob er nicht schon die ganze Zeit dagewesen wäre, während sie ihr Vorhaben verwirft, die nächsten fünf, sechs, sieben, acht Stunden – Wie viel Uhr war es nochmal? – Stunden auf dem Sofa zu verbringen. Die Jacke trägt sie zum Glück noch, normalerweise würde sie an dieser Stelle in einem Dialog anfangen höhnisch zu lachen, weil sie die Ironie nicht anders ertragen könnte. Gleichzeitig beginnen diverse beben in ihrem Kopf eine Druckwelle, einen Tsunami, loszutreten, der mit Spitzengeschwindigkeiten auf das Land zurast, in dessen Innerem immer noch der undurchdringbare Gedankensturm wütet. Die Welle besteht aus tiefstem Selbsthass und Mutlosigkeit. Als sie in Gedanken schwebt, zieht sie den Reißverschluss ihrer Jacke wieder zu, schnürt ihr einziges Paar Schuhe und packt in ihren anderen Rucksack ein paar notwendige Dinge, dabei wird der Tsunami an jedem Weg, der sie an ihrem Arbeitsplatz vorbeiführt, stärker. Schließlich verlässt sie die Wohnung, aber nicht ohne vorher mehrmals sicher zu gehen, dass sie ihren Schlüssel eingesteckt hat und ihre Schuhe wirklich sicher gebunden sind. Zugegeben, das mag vielleicht verrückt oder paranoid wirken, vielleicht ist es auch normal, auf jeden Fall ist es notwendig, wenn es schon als Meisterleistung in ihrem Tagesverlauf angesehen werden kann morgens, nach dem Verlassen des Bades den Lichtschalter erneut zu betätigen. Ein paar Minuten verweilt sie noch im Treppenhaus und versucht zu denken, und zwar daran, ob ihr Ablauf vor Verlassen der Wohnung sichergestellt hat, dass sie an alles gedacht hat. Sie schafft es nicht, oder, weiß sie nur, dass sie es nicht schaffen wird? Parallel dazu kommt der Tsunami dem imaginären Land gefährlich nahe. Helle Steintreppen leiten sie darauf hin zwei Etagen tiefer, wo sie, dieses Mal ohne zu zögern, durch die Haustür ins Freie gelangt. Obwohl gerade Spätherbst, ihre liebste Zeit im Jahr, vorherrscht, nimmt sie die Umgebung nur dumpf wahr, nur so viel, wie durch die chaotischen Witterungsbedingungen in ihrem Kopf zu ihr durchdringt. Es ist die Zeit des Jahres, in der man noch abgefallenem Laub begegnen kann, in der noch alles ruhig ist, bis der kapitalistische Weihnachtsstress in ein paar Wochen einsetzt. Die halbkahlen Laubgewächse, die Geräusche und die Farben des Laubes, die es der Landschaft schenkt, dessen Geruch, auch der häufige Duft nach Regen, die Kälte, die feuchten Wiesen gleiten an ihr vorbei. Noch bewegen sich die Temperaturen tagsüber im positiven Bereich, doch der eisige Atem wird schon oft in der Luft sichtbar. Sie beginnt das Tempo anzuziehen, dann rennt sie, sie rennt gegen die immensen Druckwellen in ihren Gedanken, gegen die Selbstverachtung und Mutlosigkeit, doch noch ist der Tsunami unterwegs. Zugegeben, sie weiß, dass sie nichts davon besiegen kann. Es ist zu spät. Immer neue Druckwellen erzeugen gigantische Wellen im Ozean ihres Verstandes, auf der Insel der Gedanken hat der Sturm mittlerweile seinen Höhepunkt erreicht. Irgendwann geht ihr die Kraft aus und gibt dem Verlangen nach, stehen zu bleiben. So lange, bis der Sturm abflacht, der Tsunami auf Land trifft, doch wann wird es so weit sein? Es ist, als ob der letzte Impuls fehlt, noch halten die Dämme allem unbeeindruckt stand. Die Umgebung kommt ihr unbekannt vor, doch auf den zweiten Blick erkennt sie Vertrautes. Ein weitläufiger Blick erstreckt sich vor ihr, neben ihr zieren mehrere Äcker die Landschaft. Besorgnis flammt kurz auf, kein Baum in der Nähe, der ihr Schutz gebühren kann, sie ist wohl den Blicken der neugierigen Passanten ausgesetzt. Zu ihrem Glück ist noch keiner in ihrem Blickfeld, doch es wird jemand kommen, das weiß sie. So will sie niemandem unter die Augen treten, sie weiß genau, wie orientierungslos und zerstreut sie in solchen Momenten wirkt, zumindest glaubt sie das. Zugegeben, ihr ist es eigentlich egal, wie andere sie sehen, aber sie will keinem Spaziergänger einen Anlass geben, sie aus Besorgnis ansprechen zu müssen. Wenn sie den barmherzigen Samariter spielen wollen, dann sollen sie doch in die brasilianischen Favelas, die indischen Slums oder nach Westafrika gehen und dort den Menschen eine Möglichkeit geben. Sie hat ihre bereits verspielt, diese Menschen hatten nie eine. Vorsichtig versucht sie nun diesen Gedanken auf Abstand zu halten und sendet eine stille Entschuldigung an alle, über sie sie gerade unachtsam hergezogen ist. Zugegeben, das ist lächerlich, sie wird offensichtlich niemanden erreichen können, also gibt sie es schnell auf und ergibt sich. Zugegeben, dass dieser Gedankengang nicht der Wahrheit entspricht, weiß sie genau, sie ist aber nicht in der Lage das zu begreifen, oder nachzuvollziehen, oder verstehen. Um nicht nur dazustehen beginnt sie wieder sich langsam vorwärtszubewegen. Am Ende des Feldwegs biegt vor ihr jemand um die Kurve. Die Person tritt in ihr Blickfeld, sie erkennt ihn an seiner Jacke. Eine Jacke sagt am meisten über einen Menschen aus. Zugegeben, mit dieser Ansicht ist sie wahrscheinlich allein. Viele würden stattdessen auf die Schuhe schwören, weil… warum auch immer. Schuhe sind schwer schnell zu wechseln und die Beine verraten am meisten über die Körpersprache eines Menschen, aber eine Jacke kommt bei ihr viel früher zum Sprechen, weil sie immer als erstes auf das Gesicht schaut, fast nie beachtet sie die Schuhe, Jacken werden bedeutungsloser ausgewählt, weil viele mehr Wert auf Schuhe legen, somit müssten doch Jacken ehrlicher sein. Eigentlich will sie nicht, dass er sie hier so sieht, aber das kann sie nun auch nicht mehr ändern. In dem Moment trifft der Tsunami an der Insel auf Land, doch die befürchtete Erschütterung bliebt aus. Bei dem, was sie heute schon durchlebt hat, macht das auch keinen Unterschied mehr, aber es entfesselt einen Impuls in ihr. Plötzlich ist es in ihr ruhig, all der Druck ist weg, der sturm an Land war ohnehin schon weitestgehend abgeflacht. Zugegeben, sie wollte nie, dass er sie so sieht. Über sie vielen letzten Monate hat sie sorgfältig dafür gesorgt, dass sein Bild von ihrem früheren Selbst, als Sie noch Sie selbst war, weiterlebt. Oft hat sie sich gefragt, ob sie noch sie selbst ist, was absurd ist, natürlich ist sie das, aber sie hat Anlass genug, daran zu zweifeln. Sagt sie sich. Irgendetwas muss gewaltig falsch gelaufen sein. Was, weiß sie nicht, das treibt sie um, macht sie verrückt und hat sie nicht selten bis spät in die Nacht vom Schlafen abgehalten. Als ob ihr es irgendwie helfen würde sich abgrundtief diesbezüglich zu verkopfen. Es war, wie wenn ein Schalter umgelegt worden wäre. Zugegeben, es ging nicht von heute auf Morgen den Bach hinunter, aber dann doch schnell genug, um diese berühmte Metapher anwenden zu können. Jetzt wird sein Bild bald einstürzen, wie zwei amerikanische Türme, schiebt sie amüsiert hinterher. Als er sich in Reichweite befindet, entspringt ihm eine Begrüßung, irgendeine. Ihr auch. Innerlich ist sie ein wenig erleichtert, wenigstens das bravourös gemeistert zu haben. Ein paar Momente verstreichen, sie will, warten, bis er das Gespräch eröffnet, weil sie es sich nicht antun möchte in den Tiefen ihres Geistes eine geeignete Phrase zu finden, bis ihr klar wird, dass es ihr egal ist, wie der Wortwechsel beginnt und dass sie nicht in der Lage ist, sich über einen willkürlichen Gesprächsgegenstand Gedanken zu machen. Zumindest will sie das glauben. Um das nicht zu müssen, muss sie das Wort ergreifen: „Erstmal, ich bin überrascht, dass wir uns hier begegnen. Am Nachmittag verlässt du die Wohnung nur selten, soweit ich weiß. Auf jeden Fall finde ich es bemerkenswert, dass dir, wenn man mal all meine Aktionen der letzten Monate betrachtet, der Kragen noch nicht geplatzt ist. Warum hast du mich nicht hängen lassen, du hättest jeden Grund dazu?“ In dem Moment, in dem die Wörter ihren Mund verlassen, merkt sie, dass es keine zufriedenstellende Antwort gibt. Er wird ihr irgendwie erzählen, dass sie sich nur selbst schadet, dass sie mehr als das alles ist. Das will sie nicht hören, wissen tut sie es doch schon gut genug. Sie wendet sich ab, selbst überrascht von der viel zu großen Epik, die sie wohl dadurch erzeugt hat. Ungeachtet dessen geht sie nun den Weg zurück. Ihre Gedanken drängen ihr einen Vergleich mit einer viel zu kitschigen und dramatischen Filmszene auf. Zurückkehren, nimmt sie sich vor, wird sie nicht Das steht ihr jetzt absolut nicht mehr zu, die wichtigsten Dinge trägt sie ja in ihrem Rucksack bei sich. Anstatt die Schäden des Tsunamis zu beseitigen, oder wenigstens damit anzufangen, überlässt sie das geflutete Land sich selbst. Ehrlicherweise wäre sie nie in der Lage dazu, die Schäden auch nur ansatzweise zu beseitigen, bevor die nächste Welle ankommen wird. Sie läuft gerade aus, irgendwo hin, mal sehen, was geschehen wird, ob sie ihr Wort halten wird, das sie sich selbst gegeben hat? Ihre Bilanz der letzten Monate verspricht kaum Erfolg. Wird sie vielleicht doch bald wieder zurückkehren?  Sie weiß nur, dass sie sich selbst nichtmehr trauen kann. Zugegeben, das Leben hat sie noch vor sich. Am Horizont entsteht schon die nächste Welle aus Selbstverachtung und Feigheit, und dann merkt sie, dass er ihr nach wie vor folgt, und sie will doch einfach nur haben, was sie verdient – Nichts.

 

Mia Schindler


Teile diesen Beitrag mit Deinen Freunden!

Schreibe einen Kommentar